Zeitmanagement
Die Angst, etwas zu verpassen
Was früher nur im Job der Fall war, gilt immer mehr für den Feierabend: Wir sehen unser Leben oft als To-Do-Liste. Anstatt die freie Zeit sinnvoll einzuteilen, quetschen wir unsere Wochen voll. Über das "Fear of Missing Out" – und was wir dagegen tun können.
Wer mehrere Jobs jongliert, Kinder hat, die Eltern pflegen muss oder üblicherweise eine 60-Stunden-Woche schiebt, ist überlastet. Das liegt auf der Hand. Laut verschiedenen Studien und Umfragen sind zwischen 60 und 80 Prozent der Deutschen dauergestresst im Job. Doch immer öfter klagen auch Studenten oder Menschen ohne belastende Verpflichtungen über zu viel Stress und zu wenig Zeit. Wer wegen kurzfristiger Absagen von Freunden erleichtert ist, nimmt sich definitiv zu viel vor. Woher kommt das?
Längst gilt es auch für die Freizeit: heute ein Konzert, morgen die neueste Bar abchecken, ein Kurztrip übers Wochenende, die Netflix-Session mit Freunden und dazwischen noch die Alltagspflichten wie Arzttermine, Einkauf oder der Gang zum Amt. Oft sieht so eine durchschnittliche Woche aus. Meist nehmen wir uns zu viel vor, ohne es zu realisieren. Denn die Möglichkeiten sind da. Und sie sind oft schier unendlich.

Schlechtes Zeitgefühl
Dank sozialer Medien liegt uns die Welt zu Füßen. Auf einen Blick sehen wir alles, was unsere Stadt zu bieten hat. Wir sind permanent erreichbar – eine kurze Gruppennachricht und zack, steht die nächste Verabredung mit Freunden. In fernen vor-mobilen Zeiten hätten wir stundenlang recherchiert, zig Menschen abtelefoniert, für Konzerttickets Schlange gestanden und für einen Urlaub im Reisebüro gesessen. Der Gang der Dinge war deutlich langsamer.
Heute sind gefühlt all diese Aktivitäten per Klick buchbar. Abendessen, eine Lesung und danach noch mit Freunden in eine Bar – was auf dem Display nach einem coolen, absolut machbaren Abend aussieht, verlangt in Wirklichkeit beachtliches Organisationsgeschick. Klicken geht schnell, doch um mit unserem Online-Leben Schritt zu halten, müssten wir längst das Beamen entwickelt haben.
Meist unterschätzen wir zudem, wie lange etwas dauert. Welche Band fängt das Konzert schon pünktlich an oder verschwindet ohne Zugabe? Das gilt auch für den Zeitaufwand, um von Punkt A zum Punkt B zu kommen. Und vor allem wie lange wir fürs Nichtstun dazwischen benötigen. Die Diplompsychologin Franziska Gerstenberg sagt in einem ZEIT-Campus-Interview: "Wir unterschätzen gnadenlos, wie viel Zeit wir brauchen, um uns zu regenerieren." Nach einem Treffen mit einem Freund müssen wir das Gespräch auch verarbeiten. Nach einem Urlaub brauchen wir vielleicht einen zusätzlichen Tag zuhause, um anzukommen. Genau wie nach einem anstrengenden Arbeitstag ein entspannter Abend zuhause drin sein muss, an dem wir nichts tun.
Wir unterschätzen jedoch auch, wie viel Zeit moderne Technologien verschlucken. Wer die Stunden zählt, die er mit seinem Smartphone verbringt, den Serien, dem Posten und Kommentieren oder dem Googeln von Infos, die man schnell wieder vergisst, wird vermutlich erstmal in Schockstarre verfallen. Wer einmal ein Online-Spiel gespielt hat oder "mal eben schnell" sein Instagram-Feed gecheckt hat, weiß: Was sich wie fünf Minuten anfühlt, frisst mindestens eine halbe Stunde. Auf Dauer fehlt uns diese Zeit für die Dinge, mit denen wir wirklich unsere Zeit verbringen wollen – ob es lange Spaziergänge oder Lesestunden sind, Ausflüge oder Sport, Zeit mit Freunden oder Hobbys.

Die totale Selbstoptimierung
Zudem sind wir heute deutlich öfter mit perfekten Bildern aus dem fremden Leben konfrontiert, die uns zeigen, was wir alles verbessern könnten. Wir sehen atemberaubende Urlaubsorte, trainierte Körper, optimierte Frühstücksbowls und durchdesignte Startup-Arbeitstische. Neben normaler Wünsche kann dadurch auch das Gefühl eigener Unzulänglichkeit wachsen. Schließlich sehen wir nur die besten, hochpolierten Ausschnitte aus dem Leben der anderen. Und versuchen, damit Schritt zu halten. Wir nehmen uns vor, Sport zu machen, ein Business zu starten, ein Musikinstrument zu lernen, 50 Bücher im Jahr zu lesen, zu meditieren und noch jede Party im Umkreis von 100 Kilometer zu besuchen. Und überlasten uns schon gedanklich.
Dieser moderne Zustand wurde längst beschrieben und nennt sich Fomo, kurz für Fear of Missing Out oder auf Deutsch: Die Angst, etwas zu verpassen. Und genau die steckt dahinter. "Wir sind von der Angst getrieben", sagt Hartmut Rosa. Nämlich, mit der Welt nicht Schritt zu halten. Die Möglichkeiten sind grenzenlos, und alles wird immer schneller. Auf dem Arbeitsmarkt ist es besonders sichtbar. Die Forderungen werden immer höher. Wo früher Abitur gereicht hätte, müssen die Kandidaten heute ein Studium vorweisen. Selbst für einen relativ jungen Beruf wie Social Media Manager, bei dem man scheinbar fürs Posten bezahlt wird, ist meist ein Studium nötig. Lesen wir Artikel über Karriere und Beruf, bekommen wir den Eindruck, dass man alles können muss – und sich nie sicher sein kann, wann der eigene Job an einen Roboter geht. All das ist latenter Stress. Auch die Angst vor dem sozialen Abstieg kann Fomo verursachen. Nicht umsonst arbeitet fast jeder siebte Deutsche unbezahlt in seiner Freizeit, wie die Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zeigt. Die Folge: Dauerstress, auch im Privaten.
Was sollten wir tun, um der geistigen Tretmühle zu entkommen?
Franziska Gerstenberg empfiehlt, die Prioritäten gründlich zu reflektieren.
- Was und wer ist mir wichtig?
- Wie möchte ich Zeit verbringen?
- Was möchte ich im Leben wirklich erreichen – und muss das wirklich alles sofort und gleichzeitig sein?
- Und dann zu schauen: Ist meine Zeit tatsächlich nach meinen Prioritäten eingeplant?
- Noch wichtiger ist es, auf seine Bedürfnisse und Gefühle zu achten. Wer trotz Müdigkeit zusagt, sich noch auf ein Bier zu treffen, sollte überlegen: Ist es tatsächlich was ich gerade will und brauche – oder spielt schlechtes Gewissen eine Rolle? Bleibe ich länger auf der Arbeit, weil ich es gerne tue – oder habe ich Angst, sonst als schlechter Mitarbeiter zu gelten?
- Überall, wo Angst, Scham und schlechtes Gewissen eine Rolle spielen, müssen wir unsere Grenzen kennenlernen und auch verteidigen.

Oft steckt hinter Fomo auch einfach eine gesunde Neugier auf die Welt. Doch wir sollten uns fragen: Lerne ich durch einen Wochenendtrip wirklich das Land kennen oder sollte ich vielleicht lieber abwarten und eine Woche für den Ort einplanen? Habe ich wirklich etwas davon, drei Konzerte die Woche zu besuchen oder vermischen sich die Erlebnisse zu einem? Unser Gehirn hat nur eine begrenzte Aufnahmekapazität.
Checkliste: Fomo bekämpfen
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Selbstbefragung: Mit welchem Gefühl starten Sie in die Woche? Sind Sie ausgeruht und voller Energie? Oder schleppen Sie sich meist müde zur Arbeit?
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Prioritäten setzen: Was ist Ihnen wichtig? Zeit mit Freunden? Die Arbeit? Ihr Hobby? Oder Ruhe und Zeit zu reflektieren? Geht in Ihrer Planung etwas regelmäßig unter?
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Grenzen setzen: Ein einziges Konzert statt ein Festival, ein Abend die Woche mit Freunden statt jeden Abend, zwei Abende allein zuhause.
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Falsche Erholung vermeiden: Eine Folge Netflix zum Entspannen schadet sicher nicht und oft ist es genau das, was man braucht. Doch oft schlucken Medien unsere Zeit – die beste Erholung ist medienfrei.
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