Homeoffice dank Corona
Seit Wochen ist Deutschland im Homeoffice. Diese kollektive Erfahrung beschleunige nicht nur den digitalen Fortschritt der Arbeitswelt, sie werde auch weitreichende Konsequenzen für das gesellschaftliche Leben haben, sagt der Hamburger Zukunftsforscher Prof. Peter Wippermann. Im Interview mit der Redakteurin unseres Kundenmagazins proFit prognostiziert er eine Polarisierung der Gesellschaft.
- Arbeitswissenschaftler prognostizieren einen enormen Schub an mobilen Arbeitsplätzen. Bis zu 30 Prozent aller Schreibtischjobs könnten von zu Hause erledigt werden, sagt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Ist das Homeoffice die Zukunft der Arbeit?
Prof. Wippermann: Die momentane Situation macht Technologien, die es seit längerem gibt, extrem populär. Schüler, Studenten, Büroangestellte entdecken Videokonferenzen und Dokumenten-Sharing. Dank Homeoffices wird die Arbeitswelt weiter rationalisiert werden. Arbeitnehmer interessieren sich dafür, weil sie ihre persönliche Zeit besser planen können. Arbeitgeber befürworten den Rationalisierungsschub, weil sie Ausgaben für Miete, Büroflächen und Infrastruktur sparen.
- Wie wird sich mobiles Arbeiten auf die Arbeitszeit auswirken?
Prof. Wippermann: In naher Zukunft werden wir über die Einführung der Vier-Tage-Woche diskutieren. Denn die klassische Arbeitszeit ist geprägt von der Industrialisierung der Wirtschaft. Das ändert sich durch die Digitalisierung. Heute erledigen wir anfallende Arbeitsmengen in anderen Zeitblöcken als früher, vielleicht werden wir an wenigen Tagen viele Stunden im Home-Office arbeiten. Mobiles Arbeiten bedeutet, dass wir zu verschiedenen Zeiten an unterschiedlichen Orten arbeiten.
In naher Zukunft werden wir über die Einführung der Vier-Tage-Woche diskutieren.
- Der Mensch ist ein Herdentier...
Prof. Wippermann: ...ich würde sagen ein soziales Wesen, das ist netter...
- In der Steinzeit versammelten sich soziale Wesen am Lagerfeuer. Bis gestern trafen wir uns in der Teeküche auf dem Büroflur. Wie sieht das Lagerfeuer der mobilen Arbeitswelt aus?
Prof. Wippermann: Wir werden uns immer in der realen, physischen Welt treffen wollen. Ich nenne sie mal die erste Wirklichkeit. Spannend ist, dass wir mittlerweile eine zweite Realität haben, eine virtuelle Wirklichkeit. Man sieht ja im Privaten, dass sich hier etwas vollzogen hat, das für Ältere durchaus gewöhnungsbedürftig ist.
- Worin unterscheiden sich die beiden Welten?
Prof. Wippermann: Unsere Daten zeigen, dass sich in Deutschland 51 Prozent der Ende 30-Jährigen mit ihren Freunden lieber in der realen als in der virtuellen Welt treffen. In England sagten drei von vier 18 bis 34-Jährigen schon vor drei Jahren, dass sie ihre Freunde lieber in der virtuellen als in der realen Welt sehen. Und nur jeder Vierte wollte sich mit seinen Freunden im Pub verabreden.
- Was macht virtuelle Begegnungen so reizvoll?
Prof. Wippermann: Die Übertragungstechniken sind durch Videostreaming einfach besser geworden. Typisch dafür sind die Boom-Plattformen wie Zoom im Businessbereich oder Houseparty für Privatleute. Hier können Sie zeitgleich und an unterschiedlichen Orten mit acht Freunden Video-Streaming machen. Diese technischen Infrastrukturen gab es früher nicht. Diese Art des Miteinanders bewirkt etwas in Freundschaften: Da hat man vielleicht 120 Facebook-Freunde, das bedeutet aber nicht, dass einer von ihnen dich an Ostern anruft.
- Läuft der Digitalisierungsschub durch Corona auf einen Generationenkonflikt hinaus?
Prof. Wippermann: Ich weiß nicht ob es ein Konflikt ist. Wir sehen aber, dass die neuen Technologien für Heranwachsende die reale Umwelt ist, an die sich die vorherige Generation anpassen muss. Je älter die Gruppen sind, umso fremder werden ihnen die neuen Technologien. Zwar haben die Älteren inzwischen Facebook im Griff. Aber zum Videoportal TikTok finden sie definitiv keinen Zugang, weil sie es gar nicht verstehen. Videostreamings sind für Schüler heute eine Art Bildungsrealität. Für viele Eltern und Großeltern bedeuten sie Böhmische Dörfer, wenn man diesen Ausdruck noch nutzen darf.
- In Corona-Zeiten geben Bürger gerne ihre Handy-Daten her. Was schließen Sie daraus?
Prof. Wippermann: Wenn wir Menschen fragen, welche Werte Ihnen 2020 wichtig sind, werden zuerst Gesundheit, Familie und Erfolg genannt. Jetzt kommt das Thema Sicherheit hinzu. Und hier liegt der Schwerpunkt auf soziale Distanz. Wegen der Corona-Krise sind wir bereit, neue Technologien zuzulassen, etwa Apps, die anzeigen, ob wir einem Corona-Infizierten begegnet sind. Wir lassen also digitale Techniken zu, um letzten Endes gesund zu bleiben und sozial anerkannt zu sein.
- Ihr erstes Resümee der Corona-Krise – als Zukunftsforscher?
Prof. Wippermann: Bei der Produktion von Waren erkennen wir: Nicht die Roboter, die Maschinen sind der Unsicherheitsfaktor. Es ist der Mensch, er wird krank. Diese Erkenntnis wird zu einer Beschleunigung der digitalen Produktion führen. Als zweiten Punkt sehe ich die Polarisierung der Gesellschaft. Es wird zu erhöhter Spannung kommen zwischen denjenigen, die in der Lage sind, in ihrem beruflichen Umfeld die digitalen Technologien zu nutzen, und denjenigen, die in der sogenannten ersten Realität ihre Arbeitsplätze haben, etwa Pfleger oder Kassiererinnen. Die Digital-Arbeiter profitieren und werden mehr verdienen. Für jene, die in der ersten Realität arbeiten, wird es allerdings schwierig werden, diese Entwicklung positiv begleiten zu können. Sie werden wirtschaftlich nicht profitieren – sofern nicht Arbeitgeber und Gewerkschaften eine Lösung finden. Es ist allerdings mehr als wahrscheinlich, dass die Heldinnen von heute an der Kasse morgen wegrationalisiert werden – Amazon Go [amer. Supermarktkette, deren Geschäfte ganz ohne Kassen auskommen, Anm. d. Red.] ist mittlerweile ein Supermarkt-Format und funktioniert in den USA.
Das Interview führte Annette Rogalla, Redakteurin des mkk Gesundheitsmagazins proFit
Kontakt: annette.rogalla@meine-krankenkasse.de
Aus dem Interview im Wortlaut können Sie unter Nennung der Quelle gerne zitieren.
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